August 22, 2023
Von Julee Henry
Zwar konzentriert sich das Human-Factors-Team von Emergo by UL vornehmlich auf Human Factors Engineering (HFE)-Dienstleistungen in der Medizinbranche, doch besitzt unser Team auch Erfahrung in verschiedenen anderen Branchen. In diesem Artikel werden die Ähnlichkeiten und Unterschiede von HFE beim Design von Medizin- und Automobilprodukten aufgezeigt.
Design benutzerfreundlicher und sicherer Produkte in der Medizin- und Automobilbranche
HFE-Prozess und -Methoden sind in der Automobil- und Medizinproduktebranche weitestgehend identisch. Ähnlichkeiten beim Erstellen benutzerfreundlicher, sicherer Produkte gibt es unter anderem bei:
- Verständnis der Anwender und Anwendungsumgebungen
- Analysetechniken wie anwendungsbezogene Risikoanalyse, Analyse bekannter Probleme und Aufgabenanalyse
- Ausarbeitung der Benutzeranforderungen
- Designevaluierungen, z. B. heuristische Analyse, Benutzertests und anthropometrische Bewertungen
Vergleich von Benutzeroberflächen (UIs) in Medizin- und Automobilprodukten
Medizin- und Automobilprodukte sind recht unterschiedlich, haben jedoch einige Attribute gemein. Vergleicht man eine chirurgische mit einer Fahrzeugschnittstelle, erkennt man, dass beide über eine große Anzahl von Features und Funktionen verfügen und somit eine komplexe Benutzeroberfläche darstellen. Beide Benutzeroberflächen können digitale, physische und akustische Berührungspunkte aufweisen. Ebenso können beide Produkte ein hohes Maß an Risiko bergen: Bei Bedienungsfehlern können Menschen schwer verletzt werden. Beide Produkte werden in der Regel im Zusammenhang mit einer hohen mentalen Arbeitsbelastung verwendet und erfordern ein hohes Maß an Konzentration, Informationsverarbeitung und Entscheidungskraft. Die Produkte beider Branchen werden weltweit reguliert. In beiden Branchen kommt es fortwährend zu technologischen Innovationen, welche eine Analyse und Bewertung der zugehörigen neuen Benutzeroberflächen erforderlich machen.
Das Vordringen von Human Factors (HF) in der Automobil- und Medizinbranche
Nach der Einführung von Human Factors (HF) in der Luftfahrtindustrie in den 40er und 50er Jahren wurde auch die Automobilbranche darauf aufmerksam. Der Automobilhersteller Ford richtete 1956 eine Human Factors Engineering-Abteilung ein [1]. In den 60er und 70er Jahren wurden weltweit zahlreiche Normen und Leitlinien zur Körperergonomie veröffentlicht. Insbesondere gab die Society of Automotive Engineers (SAE) die ersten ergonomischen Normen heraus, darunter SAE J826, bei der anhand anthropometrischer Daten 2D- und 3D-Fahrzeugdesignmodelle generiert werden, und SAE J941, bei der die Augenposition (Augenellipse) des oder der Fahrer(in) identifiziert wird. Im Laufe der 90er Jahre wurden weltweit zahlreiche Normen und Leitlinien bezüglich mentaler Arbeitsbelastung und kognitiver Verarbeitung (d. h. kognitive Ergonomik) veröffentlicht, die mit Ablenkungen beim Fahren im Zusammenhang stehen. 2012 gab die US-amerikanische National Highway Traffic Safety Administration (NHTSA) die erste Leitlinie zur Fahrerablenkung heraus.
Im Vergleich dazu brachte die US-amerikanische Qualitätssystemvorschrift (QSR) erst 1996 indirekte HFE-Anforderungen in die Medizinbranche ein – über 30 Jahre nach der Einführung von HFE in der Automobilbranche. 2001 wurde dann die Designverfahrensnorm ANSI/AAMI HE75 erstellt. In 2008 erstellte die EU IEC 62366, und in 2011 gab die FDA ihr erstes offizielles auf Human Factor Engineering gestütztes Designverfahren für Medizinprodukte heraus.
Human Factors Engineering ist als Disziplin und Verfahrensweise in der Automobilbranche ausgereifter. Somit müssen Automobilhersteller in der Regel nicht von den Vorteilen von frühzeitigen Anwenderstudien, nutzerorientiertem Design oder Usability-Tests überzeugt werden. Die Aufgaben vieler im HFE-Bereich Tätiger in der Automobilbranche umfasst in der Tat mehr als das bloße Verhindern von Anwendungsfehlern, sondern auch das Optimieren der Attraktivität eines Produktes, das Identifizieren der Arten, in denen Produkte das Leben der Kunden verbessern, und das Erstellen von Schnittstellen, die das Vertrauen der Kunden in die zunehmenden Fähigkeiten der Fahrzeuge stärken. In der Medizinbranche hingegen ist das Human Factors Engineering unterschiedlich stark verbreitet; einige Unternehmen lernen die Vorzüge eines starken HFE-Programms oder eines nutzerorientierten Designverfahrens erst noch kennen.
Einhaltung regulatorischer HFE-Anforderungen in der Medizin- und Automobilbranche
Beide Branchen sind in den USA stark reglementiert. Je nach Antragstyp sind in der Medizinbranche in der Regel eine Risikoanalyse und Validierungstests erforderlich, um kritische Aufgaben für ein neues Produkt zu bewerten. Die HF-Dokumentation für Medizinprodukte wird in der Regel bei der FDA zur Prüfung eingereicht. Der Automobilbranche hingegen wird anstelle der Durchführung von Validierungstests für neu entwickelte Fahrzeuge und Komponenten die Einhaltung von Designregeln vorgeschrieben. Angesichts der Gleichartigkeit von Produkttyp und Benutzergruppen von einem Fahrzeug zum anderen ist es sinnvoll (und sehr viel kostengünstiger), sich anstatt auf Validierungstests auf solide recherchierte Designregeln zu verlassen, um anwendungsbezogene Risiken zu minimieren.
Eine Situation, in der auch in der Automobilbranche eine Risikoanalyse und Validierungstests strengstens zu empfehlen sind, ist während der Entwicklung neuartiger Benutzeroberflächen für neuartige Technologien (z. B. Fahrerassistenzsysteme, Schaltsysteme). Für die Einhaltung regulatorischer Anforderungen bezüglich HFE in der Automobilbranche prüft die NHTSA keine HFE-Dokumentation und erteilt keine Vorabgenehmigungen für neue Kraftfahrzeuge oder Fahrzeugtechnologien. Usability-Tests sind zwar nicht unbedingt gesetzlich vorgeschrieben, jedoch in der Praxis üblich, um wettbewerbsfähige und ansprechende Produkte herzustellen, an denen die Kunden ihre Freude haben.
Vergleich von Anwendern und Anwendungsumgebungen in der Medizin- und Automobilbranche
Medizinprodukte werden von breit gefächerten Zielgruppen in breit gefächerten Anwendungsumgebungen verwendet, sodass für jedes Produkt spezielle Human Factors berücksichtigt werden müssen. So können die unterschiedlichen Merkmale der Patientenbenutzer z. B. von einer Beeinträchtigung der Fingerfertigkeit älterer Patienten über das Leseverständnis eines jugendlichen Patienten bis hin zu den kognitiven Defiziten eines Alzheimer-Patienten reichen. Ebenso große Abweichungen kann es bei den Anwendungsumgebungen geben – von der Wohnung eines Patienten über eine geschäftige Säuglingsintensivstation mit zahlreichen Alarmtönen bis hin zu einem fahrenden Krankenwagen. Automobilprodukte andererseits weisen bis auf ein paar Ausnahmen (z. B. Polizeibeamte oder Rollstuhlbenutzer) ähnliche Benutzermerkmale von einem Fahrzeug zum anderen auf (z. B. Personen über 16 mit Führerschein, die einen Sehtest und eine schriftliche Prüfung absolviert haben). Bis auf Straßentyp (Stadt oder Überland), Witterungsbedingungen, Verkehrsdichte usw. ändern sich die wichtigsten Anwendungsumgebungen zwischen den Produkten nicht maßgeblich. Zwar gibt es spezielle Anwendungsfälle und -umgebungen wie Camping, Nutzung eines Flottenfahrzeugs durch Berufskraftfahrer oder das Warten beim Aufladen eines Elektrofahrzeugs, doch bleibt die Fahrumgebung relativ konstant.
HFE in der Medizin- und Automobilbranche weist zahlreiche Ähnlichkeiten und Unterschiede auf. In beiden Branchen sorgt das Design von Produkten mit starken HFE-Praktiken für sicherere, wirksamere und benutzerfreundliche Produkte, die Fahrern, Patienten, Pflegern und Gesundheitsdienstleistern gleichermaßen zugutekommen.
Referenzen
- Bhise, V. (2011). Ergonomics in the Automotive Design Process. CRC Press.
Julee Henry ist lead human factors Expertin im Human Factors Research & Design-Team von Emergo by UL.
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